28.09.-10.10.2023
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„Put the flag down, this is not Israel!“ – „Runter mit der Fahne, hier ist nicht Israel!“ – so rufen uns vorbeifahrende Autofahrer und Passanten teilweise zornig zu. Unbedacht haben wir bei unserem Aufbruch in West-Jerusalem Richtung Totes Meer den israelischen Wimpel an Astrids Rad behalten und fahren nun durch Ost-Jerusalem, dem dann plötzlich auch für uns klar erkennbar arabischen Teil der Stadt. Kleidung der Menschen – die Männer ohne Kippa, die Frauen mit Hijab und langen schwarzen Kleidern –, hörbare Muezzin-Rufe sowie das plötzliche Fehlen israelischer Flaggen machen uns deutlich, dass wir uns bereits im Westjordanland, Teil des palästinensischen Autonomiegebiets befinden. Trotz des hier bereits spürbaren Hasses ahnen wir noch nicht, welche Eskalation dieser Konflikt erfahren wird. Seit dem Ausgangspunkt, dem Zerfall des Osmanischen Reiches, spätestens aber seit der Aufhebung des britischen Protektorats 1947 und dem sich Israels Unabhängigkeitserklärung im Mai 1948 anschließenden arabisch-israelischen Krieg ziehen sich Gewalt und Gegengewalt wie ein roter Faden durch die Geschichte dieser Region.
Aber wie anders hatte doch unser Aufenthalt begonnen! Nach der rund 30-stündigen Über-Nacht-Flug-Anreise von Nevşehir über Istanbul zwar ziemlich übermüdet in Tel Aviv angekommen, war es nur ein kurzer Weg mit dem Shuttle-Zug und von der Savidor-Zentralstation mit dem Rad zu unserer Herberge unmittelbar an die herrlichen Strände dieser Stadt. Ein Flair von Venice Beach oder Santa Monica hat uns sofort eingenommen für diese erkennbar lebhafte, moderne und lebensfrohe Stadt. Knapp drei Tage haben wir es genossen, den Beach-Volley- und -Fußballern zuzuschauen – sogar je ein amtierender Welt- und ein Europameister waren dabei, den rasenden E-Rad- und E-Roller-Fahrern auf den eigens hergerichteten Pisten auszuweichen, das harte Klacken beim ernsthaften Strand-Tennis-Turnier zu ertragen und in der Nachmittagssonne und beim Sonnenuntergang in Dickie‘s Strandcafé bei einem leckeren Cocktail und Imbiss zu chillen.
Natürlich haben wir bei Radrundfahrten über die großzügigen Boulevards mit ihren schattigen Grünanlagen und Spielplätzen auch Hafen und Altstadt des historischen Old Jaffa und die Gassen von Neve Jedek sowie die zum Teil prachtvoll wiederhergerichteten Häuser der von den Nazis aus Weimar und Dessau vertriebenen Bauhaus-Architekten besucht sowie das Treiben rund um den Dizengoff-Square beobachtet. Zu kurz war die Zeit, um alles aufzunehmen, aber ausreichend, um Begeisterung und Wohlfühl-Empfinden für diese Stadt zu entwickeln.
Deutlich anders dann das Bild in Jerusalem, das just während unserer Zeit dort geprägt ist von der, zum großen Teil sogar internationalen, Pilgerschar ultra-orthodoxer jüdischer Familien, die anlässlich des einwöchigen Sukkot, des traditionellen Laubhüttenfestes zu Tausenden in die Stadt strömen und das Straßenbild beherrschen. Der obligatorische Besuch des Tempelbergs mit Klagemauer, Al-Aqsa-Moschee und Felsendom geriet bei der Masse der orthodoxen Pilger so zu einem gleichermaßen eindrücklichen wie auch befremdlichen Erlebnis. Der kulturelle Konflikt zwischen der säkularen Mehrheit und der ultra-othodoxen, ihren Einfluss gezielt verstärkenden Minderheit in der jüdischen Gesellschaft vermittelt sich alleine schon in der Beobachtung.
Befremdlich auch die Omnipräsenz von Polizei und Militär, jeweils schwer bewaffnet, meist sehr junge Menschen beiderlei Geschlechts, die unter anderem streng den muslimischen Teil des Tempelbergs zu den Gebetszeiten gegenüber Nicht-Muslimen abriegeln. Eine Lockerheit und Entspanntheit wie in Tel Aviv ist hier nicht zu finden, vielleicht mit der Ausnahme im und um den Bereich des Obst- und Gemüsemarktes Mahane Yehuda. Hier drängeln sich orthodox gekleidete Juden und Muslime wie modisch und sexy westlich gestylte junge Menschen um die Stände mit dem bunten Angebot an Nüssen und Süßigkeiten in orientalischer Vielfalt, mit gekühlten Säften exotischer Früchte oder erfrischenden Cocktails und ausländischen Biersorten. Das alles mit einem Geräuschpegel, der vom Wettstreit zwischen den Marktschreiern, dem aus wummernden Lautsprechern tönenden Orient-Pop sowie Open-Air Karaoke-Sängern geprägt wird.

Den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt aber der Besuch von Yad Vashem, der architektonisch überragenden Holocaust-Gedenkstätte, bei uns. Der für jeden deutschen Touristen nahezu obligatorische Besuch lässt uns einmal mehr, auch noch nach unseren Besuchen von Konzentrationslägern in Deutschland, Österreich und Polen, mit einem Mixtum an Gefühlen von Scham, Wut, Fassungslosigkeit, Erschrecken, Betroffenheit, Traurigkeit, Sprachlosigkeit und Demut für lange Minuten schweigend und mit tränengefüllten Augen den Weg zurück in unsere Bleibe antreten.
Nach drei Tagen brechen wir auf Richtung Totes Meer, froh, endlich wieder auf unseren Rädern zu sitzen, allerdings nicht ahnend, welche gewaltige Hürden auf dem Weg nach Osten zu überwinden sind. Jerusalem, auf steilen Hügeln, nein, Bergen gelegen, stellt sich uns mit nicht zu radelnden Steigungen von über 20% entgegen, wo selbst das Schieben zur Qual wird so wie die Fahrt über den Highway 1 zu einem geradezu dramatischen Stresstest und die Weiterfahrt an das Tote Meer mit Durchqueren des Wadi Og zur extremen Off-Road-Prüfung.

Spektakulär, landschaftlich einzigartig, aber topografisch und klimatisch höchst strapaziös ist die Fahrt entlang des von kargen, durch Erosion bizarr geformten Gebirgszügen gesäumten Westufers des Toten Meeres, wunderbar der Blick hinüber auf die jordanische Seite, die sich im Nachmittags- und Abendlicht in sanften Pastelltönen zeigt. Entspannend dann der Aufenthalt im Kibbutz En Gedi mit dem Besuch im gleichnamigen Naturreservat mit dem erfrischenden Wasserfall-Pfad durch das Wadi David. Der Besuch des miami-ähnlichen Badeortes En Bokek mit einem Entspannungsbad im Toten Meer sollte der letzte fröhliche Moment unseres Aufenthalts in Israel sein.

War die Kontrolle beim Überschreiten der Grenze in der Negev-Wüste aus dem Westjordanland zurück nach Israel noch relativ locker, ändert sich nur einen Tag später alles dramatisch durch die schrecklichen Geschehnisse im Gaza-Streifen. Die bei Ankunft fast ausgebuchte ‚En Gedi Camp Lodge‘ leert sich innerhalb eines Tages komplett, Angst, Schrecken und Sorgen zeichnen sich auf den Gesichtern der Menschen ab und große Unsicherheit über den Fortgang unserer Reise erfasst uns trotz beruhigender Kommentare lokaler Menschen und führt letztlich zur umfassenden Neuplanung unter anderem mit dem Ziel, das Land schnellstmöglich zu verlassen und nach kurzem Aufenthalt im saisonunüblich bereits total leeren Ferienort Eilat ins sichere Jordanien zu gelangen, auch um die sorgenvollen Familien und Freunde zu beruhigen.